Viele geistige Eigentumsrechte sind unnötig – warum die Piratenpartei aus gesamtökonomischer Sicht nicht so falsch liegt!

September 18, 2009

(Klemens Skibicki)

Kürzlich fragte mich einer meiner Studenten, ob die Forderungen der Piratenpartei „zwar cool, aber volkswirtschaftlicher Blödsinn“ wären. Nach 12 Jahren Lehre unter anderem in Wettbewerbstheorie hat man zwar schnell Standardantworten parat, nach einigem Nachdenken wird aber wieder einmal klar, dass die Internet-Revolution auch hier neue Sichtweisen erfordert.

Schmarotzer oder gemeinnützig gerechtfertigte Enteignung?

Die Piratenpartei ist noch jung und ihr Programm ist nicht ausgereift. Einige zentrale Forderungen betreffen den Umgang mit geistigen Eigentumsrechten wie dem Patentschutz oder dem Schutz vor kostenloser Kopie von Musik. Für viele sind die Forderungen nach weitgehender Abschaffung dieser Rechte nur darin begründet, dass ein paar Schmarotzer nicht für Musik, Videos oder Software anderer bezahlen wollen. Die Inhaber sehen sich um die Früchte Ihrer Arbeit gebracht. Verständlich, dass sie die Verstöße gegen ihre Rechte bekämpfen, wo sie nur können. Die Forderungen der Piratenbewegung sind jedoch mehr als nur in einer „Umsonstmentalität“ begründet. Eine differenzierte Betrachtung ist angebracht.

Warum man Schutz vor kostenloser Nachahmung braucht!

Die gesamtwirtschaftliche Rechtfertigung für den Schutz vieler geistiger Eigentumsrechte sieht die herkömmliche Wettbewerbstheorie darin, dass genug Gewinnanreize bestehen müssen, damit Unternehmen Innovationen entwickeln und finanzieren können. Diese gibt es aber nur, wenn eine gesicherte Zeit lang dieses Recht alleine „ausgebeutet“ werden kann. Bei kostenloser Imitation würde der Entwickler auf seinen Kosten sitzen bleiben und deswegen keine Investition riskieren können. Kurz gesagt: Kein Schutz vor kostenloser Imitation führt zu unterlassener Innovation und damit Stillstand. Neue Produkte und Verfahren werden in der Folge nicht oder viel langsamer entwickelt. Es kommt zu ökonomischem Stillstand. Soweit die klassische ökonomische Theorie!

Das Internet  bringt eine Zeitenwende.

Historische Analysen zeigen, dass viele Innovationen in der Geschichte aus intrinsischer Motivation der Erfinder erfolgen. Es geht Ihnen also weniger um Geld, sondern z.B. um Anerkennung, dem Wunsch nach künstlerischer Erfüllung oder schlichtweg dem Spaß an der Freud, zu tüfteln oder eine Lösung zu finden. Vor allem bei teuren Entwicklungskosten reichen solche Motive aber nicht. Hier zog bisher das Argument, dass diese wirklich nicht getragen werden können, wenn keine entsprechenden Gewinnaussichten durch gesetzlichen Innovationsschutz bestehen. Im Zeitalter der kollaborativen Systeme des „Web 2.0“ genannten Internet-Zeitalters finden sich aber immer mehr Beispiele, die diese Sichtweise zumindest in Teilaspekten als überholt erscheinen lassen. Das Internet ermöglicht Produktionsweisen, die zuvor undenkbar waren.

Millionen Augen sehen und wissen mehr als Hundert aber viele Köche verderben NICHT den Brei!

Jedem bekannt ist der ungebrochene Siegeszug von Wikipedia. Das Prinzip der Online-Enzyklopädie ist so einfach wie genial: Hunderttausende von Autoren weltweit tragen ihr kleines Stück Spezialwissen auf einer einzigen Webseite zusammen. Sie bekommen dafür kein Geld und sehen von jeglichen Urheberrechten ab. Dadurch machen sie dieses Gesamtwissen größer als jede kleine Gruppe von Universalgenies dies jemals könnte. Diese „Weisheit der Massen“, die an einem Sammelpunkt gebündelt wird, kennt der Fernsehzuschauer vom Publikumsjoker von „Wer wird Millionär“. Dieser weist eine höhere Trefferquote auf als der Telefonjoker, bei dem der Kandidat bevorzugt den seiner Meinung nach gebildetsten Kopf anruft, den er kennt. Ein wichtiger Unterschied besteht jedoch darin, dass die Gruppe der Befragten nicht auf die Studiogäste beschränkt ist, sondern im Prinzip auf alle Internetnutzer weltweit ausgedehnt werden kann. Viele Augen sehen hier mehr als weniger. Dieses Funktionsprinzip gilt nicht nur für die Erstellung des Wissens, sondern auch für dessen Kontrolle und Verbesserung. Die Gemeinschaft der Autoren verbessert die jeweiligen Einträge und überwacht die Grundregeln der Online-Enzyklopädie, z.B. das Gebot der Neutralität. Die Ergebnisse sind erstaunlich. Gegen die Erwartungen vieler führt diese Maxime der „Schwarmintelligenz“ zu Ergebnissen, die in Vergleichstests weltweit mit klassisch von Expertenteams in Verlagen produzierten Werken wie dem Brockhaus besser abschnitten: Wikipedia hatte weniger Fehler, war vielfältiger, aktueller und vor allem noch für den Nutzer kostenlos obendrein. Kein Autor wurde mit Geld bezahlt, niemand verlangte die Entlohnung irgendwelcher Rechte. Folglich musste der Webseitenbetreiber auch keine Gebühren dafür erheben. Die laufenden technischen Kosten werden über eine Stiftung gedeckt. In der Folge dieses Wettbewerbs stellt der Brockhaus 2008 nach 200 Jahren Firmengeschichte seine Printproduktion ein, andere dürften folgen. Das mag für das einzelne Unternehmen bedauerlich sein, aber gesamtwirtschaftlich wird hier ein nutzenstiftendes Gut kostenlos für alle bereitgestellt. Die Urheberrechte der Brockhaus-Autoren bleiben zwar geschützt aber unter der Macht des faktischen Wettbewerbs findet sich niemand mehr, der bereit ist, dafür zu bezahlen. Hier macht der Wettbewerb die Forderung der Piratenpartei obsolet.

Das gibt es nur, wenn Du das andere auch kaufst!

In anderen Fällen jedoch können Unternehmen ihre Kunden zur Zahlung für geistige Eigentumsrechte zwingen, z.B. weil sie die Marktmacht haben, dass Produkte im Verbund gekauft werden müssen. Konkret bedeutet dies, dass man auch Produkte mitbezahlen muss, deren gleichwertige Konkurrenz auch kostenlos bezogen werden könnte, weil niemand dafür Entwicklungskosten berechnen will. Damit sind wir bei den Patenten für Computersoftware, einem der Lieblingszielscheiben der Piratenpartei. Auch hier findet man mittlerweile Beispiele, die die uneingeschränkte Notwendigkeit von Innovationsschutzrechten widerlegen. Es müssen jedoch die Voraussetzungen für kollaborative Systeme vorliegen. Im speziellen Fall betrifft das die Erstellung der Open Source Betriebssystem-Software Linux, ein anderer wäre die Weiterentwicklung des Webbrowsers Mozilla Firefox. In Konkurrenz zum früheren Quasi-Monopolisten Microsoft mit seinem Windows-Betriebssystem entwickelte oder verbesserte die weltweite Community von Programmieren ohne Bezahlung solche Produkte.

Es geht auch ohne Geldzahlung, manchmal reicht sogar der Spaß an der Freud!

„Open Source“ bedeutet, dass jeder über den Programmiercode verfügen kann und ein weiteres Stück hinzufügen oder verbessern kann, solange er dieses auch anderen frei zur Nutzung oder Entwicklung zugänglich macht. Die Motivation besteht dabei in der Lust an der Verbesserung, dem Helfen von anderen oder für nicht wenige schlicht im Ärgern von Microsoft. Auf dieses Weise entstand im Falle des Linux-Systems eine Software, dessen kalkulatorischer Produktionswert – also wenn man hierfür Programmierer hätte bezahlen müssen – auf rund 10,8 Mrd US-Dollar geschätzt wurde. Dieser gigantische Wert zeigt nicht nur die Leistungsfähigkeit solcher offenen Communitys, sondern entspricht auch dem geschätzten Wert des Microsoft Windows Vista Betriebssystems. Bei solch einer Leistung ist zumindest der Beweis geliefert, dass Schutzrechte nicht die alleinige Voraussetzung für Innovation sind. Ein ähnlich spannendes Produktionsprojekt startete das Social Network Facebook.com, das im fünften Jahr seines Bestehens weltweit mehr als 300 Millionen Nutzer zählt.

Facebook: Share and grow!

Im Mai 2007 erklärte dessen Gründer Mark Zuckerberg, dass er alle Software-Entwickler einlädt, Applikationen zu programmieren, die auf Facebook zugreifen können. Dahinter steckt also wieder das schon bei Wikipedia beschriebene Prinzip der Weisheit der Massen – jeder bringt sein kleines Stück Spezialwissen auf einer Plattform zusammen. Das Ergebnis ist ein weiteres Mal erstaunlich. Bereits 2 Jahre nach diesem Schritt haben nach Angaben des Betreibers weltweit bereits mehr als 1 Millionen Entwickler aus 180 Ländern die mittlerweile 350.000 Applikationen für Facebook produziert. Sie verlangen dafür keine direkte monetäre Entlohnung. Facebook ist für die Nutzer weiterhin kostenlos und die Entwickler bekommen keine direkten Geldzahlungen. Allein die Hoffnung auf neue Kunden oder eine entsprechende Verwertung der gewonnenen Nutzerdaten für Werbung reicht in den meisten Fällen aus. In anderen reichte sogar der Spaß daran, vielen Menschen zu zeigen, was für eine interessante Software man programmieren kann. Ganz nebenbei wurde Facebook durch diese Methode von „Share and grow“ zu einem der größten Social Networks, das seinen Nutzern so viele Möglichkeiten bieten kann wie keine anderes. Zu fragen bleibt, wie teuer der Software-Gigant Microsoft mit seinen 89.000 Mitarbeitern (plus externe Entwickler) ein solches Produkt hätte produzieren können – und vor allem, wie viel man dafür verlangen würde?

Kostenlos ist nicht umsonst, aber lass den Nutzer wählen!

Als Ökonom weiß man, dass nichts auf dieser Welt kostenlos ist. In irgendeiner Form müssen Ressourcen entlohnt werden, sonst trägt niemand den Aufwand. Wenn aber – wie in den beschriebenen Fällen – die Anerkennung durch andere oder die Hoffnung auf potentielle Kunden ausreicht, gigantische Ressourcen zu motivieren, ist die Notwendigkeit zum gesetzlichen Innovationsschutz ohne Wahlmöglichkeit zumindest in Frage zu stellen. Was passiert, wenn die Nutzer die Wahl im Wettbewerb haben, wurde im Fall Wikipedia gezeigt – Schade für Brockhaus, gut für die Gesellschaft.

Schmarotzer oder gemeinnützig gerechtfertigte Enteignung?

Die Piratenpartei konkretisiert die hier beschriebenen Grundgedanken der weggefallenen eindeutigen gesamtwirtschaftlichen Rechtfertigung eines Innovationsschutzes in Teilen ihrer politischen Forderungen. Im Einzelfall bleibt zu prüfen, wo es sich um den Wegfall simpler überkommener Besitzstände einzelner oder um für den Fortschritt einer Gesellschaft notwenigen Schutz für Innovation handelt – eine Frage die bei der Kopie von Videos oder Musik vielleicht anders beantwortet wird als bei Software-Patenten. Werde mal weiter grübeln, Fortsetzung folgt.